Donnerstag, 11. November 2010

Somewhere

Vater sein ist nicht so schwer, das Star-Dasein hingegen sehr: Sofia Coppolas vierter Film beschäftigt sich mit dem Leben eines Hollywood-Schauspielers, das auf den Kopf gestellt wird, als er für ein paar Tage auf seine elfjährige Tochter aufpassen muss. Stephen Dorff spielt den allseits begehrten Superstar Johnny Marco, der sich die Zeit mit willigen Frauen und schnellen Sportwagen vertreibt - und bald einsehen muss, dass sich unter dem schönen Schein der Glitzerwelt, in der er lebt, nichts als Leere verbirgt.





"Somewhere" beginnt mit dem Blick auf eine Autorennstrecke. Ein schwarzer Sportwagen rast vorbei. Er fährt rechts außerhalb des Bildes um die Kurve und weiter hinten wieder in die andere Richtung. Dann macht er noch eine Kurve, wieder außerhalb unseres Sichtfeldes. Eine laaange Kurve. Dann rast das Auto erneut durchs Bild. Ein Mal geht das so. Zwei Mal. Drei Mal. Spätestens bei der vierten Runde ist klar, was hier gespielt wird: Sofia Coppola hat einen langsamen Film gemacht. Einen "visuellen" Film nennt es ein Besucher später im Foyer. Doch das ist zu viel der Ehre für "Somewhere", denn visuell im Sinne von ästhetisch innovativ oder ansprechend ist Coppolas vierte Regiearbeit nicht. Vielmehr mangelt es an einer Geschichte, an vielschichtigen Charakteren, an irgendetwas, das den Blick vom rein Bildlichen ablenken würde. Mit viel Wohlwollen könnte man behaupten, dass Coppola damit die innere Leere ihrer Hauptfigur unterstreicht, doch das allein ist bei weitem nicht genug für einen interessanten Film, dessen Themen - die Einsamkeit des Superstars, die stille Verzweiflung hinter der glamourösen Fassade - in Britney-Spears-Videos bereits überzeugender aufgearbeitet wurden. Auch ein Soundtrack voll hipper Indie-Bands kann Coppola diesmal nicht retten. Stephen Dorff ist im 90er-Jahre-Schlabberlook mit schwindendem Haaransatz und seiner mediokren Filmographie im echten Leben so gar nicht glaubhaft als A-Schauspieler Johnny Marco. Was Jackass Chris Pontius in diesem Film zu suchen hat, bleibt ohnehin ein Rätsel. Einzig die elfjährige Elle Fanning liefert eine respektable darstellerische Leistung. Ansonsten ist "Somewhere" leider Zeitverschwendung. Definitiv nicht der Film, mit dem Coppola ihren letzten Schnitzer, "Marie Antoinette", vergessen machen kann.

Carlos

Olivier Assayas' "Carlos" erzählt die Geschichte des gleichnamigen Terroristen, auch bekannt als "Der Schakal". Über zwei Jahrzehnte hinweg war Carlos anti-islamistischer Kämpfer, zunächst als Söldner der PLO, dann als Gründer der "Organization of the Armed Arab Struggle-Arm of the Arab Revolution" (OAAS). Am berüchtigsten ist der Schakal (bürgerlich: Ilich Ramirez Sànchez) für den Anschlag auf die OPEC-Konferenz 1975 in Wien, bei dem drei Menschen erschossen und siebzig weitere als Geiseln genommen wurden. Mit einer Laufzeit von fünfeinhalb Stunden (bzw. 186 Minuten in der "Kurzversion") darf man "Carlos" getrost als Epos bezeichnen.



"Carlos" ist zunächst einmal eine logistische Meisterleistung. In nur 92 Drehtagen filmte Assayas an Originalschauplätzen in u.a. Libyen, Frankreich, Deutschland, Ungarn und auch Österreich. Gerade die OPEC-Sequenzen im Wien der 70er Jahre sind beeindruckend authentisch (wenn auch ein wenig irritiert, dass der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky vom deutschen Udo Samel gespielt wird).

Doch nicht nur in handwerklicher Hinsicht ist der Film beeindruckend: Selbst in der fünfeinhalbstündigen Version hat "Carlos" kaum Längen - im Gegenteil, die ausladende Spielzeit erlaubt Assayas, die Motivationen der Charaktere und die geschichtlichen Hintergründe genau zu erklären. Im Gegensatz zum oberflächlich lärmenden "Baader Meinhoff Komplex" gelingt es dem Film somit, den Zuschauer emotional ins Geschehen zu involvieren.

Ohne Makel ist Assayas' Epos dennoch nicht. Zwar spielt das gesamte Ensemble großartig - allen voran der Hauptdarsteller Édgar Ramírez, der so leichtfüßig mit unterschiedlichen Sprachen jongliert, wie zuletzt Christoph Waltz in "Inglourious Basterds" -, doch tappt "Carlos" in dieselbe Falle, wie fast jedes Terroristen/Gangster-Biopic der letzten Jahre: Es glorifiziert, wenngleich unbeabsichtigt, seine Hauptfigur. Carlos ist ein Rockstar, ein Macher, ein Typ, der seinen Willen durchsetzt und nebenbei mit vielen schönen Frauen schläft. Und so viel Zeit wir in diesem Film mit ihm verbringen, so eindimensional bleibt die Figur doch. Abgesehen von seltsam eitlen Anwandlungen und gelegentlichen Wutausbrüchen bleibt Carlos stets charmant und behält fast schon übermenschliche Contenance.

Nach der Vorstellung erklärt Olivier Assayas, er habe keinen politischen Film machen wollen, sondern einen Film über politische Ereignisse. "Carlos" sei nicht nur das Porträt eines einzelnen Terroristen, sondern stelle die gesamte Geschichte des Terrorismus über vier Jahrzehnte dar.


Die anwesenden Schauspielerinnen und Schauspieler schwärmen von Assayas laissez-faire-Stil beim Dreh. Der Regisseur habe nur wenige Anweisungen gegeben und seinen DarstellerInnen voll und ganz vertraut. Reizend ist Nora von Waldstätten, die im Film Magdalena Kopp spielt, Carlos' Komplizin und Geliebte. Als sie vor dem Publikum spricht, ist sie aufgeregt,  weil sie den Film in ihrer Heimatstadt präsentieren darf, in Anwesenheit ihrer Familie und ihrer Freunde. Später bekomme ich mit, wie von Waldstätten ihren Vater und Assayas miteinander bekannt macht. Es ist ein bemerkenswert alltäglicher Moment, der mir ein triviale Wahrheit vor Augen führt, nämlich dass die schönen Menschen dort oben auf der Leinwand doch auch Menschen sind, wie du und ich.

Sonntag, 7. November 2010

Ohne Umwege zur Wahrheit

Zwei Filme über die Liebe zählen für mich zu den Highlights der diesjährigen Viennale. Derek Cianfrances "Blue Valentine" und "Another Year" von Mike Leigh.

"Another Year" ähnelt einem Theaterstück in vier Akten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Durch diese Jahreszeiten begleiten wir Tom und Gerri, ein seit vielen Jahren glücklich verheiratetes Ehepaar. In ihrer Freizeit werken die beiden in ihrem Schrebergarten und laden Freunde zum Abendessen ein. Nicht alle Menschen in ihrem Umfeld sind so glücklich wie Tom und Gerri: Mary (umwerfend gespielt von Lesley Manville) hadert nach einer gescheiterten Ehe und einer unglücklichen Affäre mit dem Alleinsein. Oft sucht sie Trost bei Gerri, die sich ihre Sorgen anhört, mit der Zeit aber auch überfordert wird von der ewigen Jammerei ihrer Freundin. Zumal sich Mary ein wenig in Gerris Sohn Joe verschaut hat und gar nicht freundlich reagiert, als der eines Tages mit einer neuen Freundin nach Hause kommt. Dann ist da noch Ken, ein alter Jugendfreund, der sich weigert in Pension zu gehen, weil es außer der Arbeit nichts in seinem Leben gibt, wofür es sich aufzustehen lohnt. Zu guter Letzt lernen wir noch Toms Bruder Ronnie kennen, einen in sich selbst zurückgezogenen Mann, der nach dem Tod seiner Frau nur noch einen entfremdeten Sohn hat, und in einer kahlen, trostlosen Wohnung dahinvegetiert.



"Another Year" ist die Art Film, die Woody Allen machen würde, wenn er seinen Fatalismus ablegen könnte. Wir sehen alltägliche Menschen, die alltägliche Dinge tun. Sie sind schwach, unsicher, aber auch gütig und liebevoll. Mike Leigh behandelt seine Figuren mit Respekt, auch die schwierigen, und obwohl es in "Another Year" zu einem großen Teil um verzweifelte Menschen geht, die beinahe jegliche Hoffnung auf Glück verloren haben, ist es ein lebensbejahender, philanthroper Film.

In der Q+A-Session nach der Vorführung des Films, sagt Mike Leigh einen schönen Satz. Gefragt nach seiner Einstellung zum aktuellen 3D-Trend im Kino, antwortet der Regisseur: "If you thought this film was two dimensional, then I did a very bad job." Leigh kann beruhigt sein:"Another Year" hat mehr Tiefe als James Cameron mit allen Multimillionen-Dollar-Kameras der Welt jemals einfangen könnte.

"Blue Valentine" erzählt die Geschichte von Dean (Ryan Gosling) und Cindy (Michelle Williams). Die beiden sind sind schon seit einiger Zeit verheiratet und haben eine junge Tochter. Dean geht in der Rolle des Ehemanns und Vaters auf, doch etwas stimmt in der Beziehung nicht. Als das Ehepaar ein romantisches Wochenende in einem Hotel verbringen will, laufen die Dinge aus dem Ruder.



Auch "Blue Valentine" ohne Umwege zur Wahrheit, ist dabei allerdings brutaler als "Another Year". Und wieder denkt man an Woody Allen, dessen "Husbands & Wives" auf ähnlich desperate Weise von den Abgründen der Liebe erzählt. Konventionell, aber wirkungsvoll stellt Regisseur Derek Cianfrance glücklichere Tage des Ehepaars in Rückblenden der problematischen Gegenwart gegenüber. Bilder von der ersten Verliebtheit, die bei Cindy vielleicht nie so stark war, wie bei dem unbedarften, offenherzigen Dean, konterkarieren das graue Jetzt. Oft fällt es schwer, zuzusehen, wie die Bedürfnisse der beiden Protagonisten sich in entgegengesetzte Richtungen entwickeln. "Blue Valentine" ist kein angenehmer Film - aber die Wahrheit ist selten angenehm. Ein großer Film, der Ryan Gosling und Michelle Williams hoffentlich Oscar-Nominierungen einbringen wird.

John Turturro am Badeschiff

Im Festivalzentrum begrüßte Hans Hurch letzten Freitag einen der größten Stars der heurigen Viennale: Schauspieler und Regisseur John Turturro (bekannt aus Filmen wie „Barton Fink“ und „O Brother, Where Art Thou?“) nahm auf der Bühne des Badeschiffs Platz, um über seine neue Spieldokumentation „Passione“ zu sprechen. Der Film, der natürlich auch bei der Viennale gezeigt wurde, beschäftigt sich mit der langen musikalischen Tradition Neapels. Im Gespräch mit Patrick Pulsinger erzählt Turturro, selbst ein Kind italienischer Einwanderer, von seiner Verbindung zu der Stadt und ihrer Kultur.



Von Pulsinger auf die ewig aktuelle Diskussion um die „Ausländerproblematik“ in Österreich angesprochen, erwidert Turturro: „The problems are the same everywhere. The languages are different, but the problems are the same.“ Große Kunst entstünde allerdings immer in Melting Pots, wie Neapel, Rio oder eben Wien, wo viele unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. 

Fasziniert ist Turturro von der Energie der Musik: „A great singer, a great song will kill CGI and explosions everytime, because [music] moves you internally“. Aus diesem Grund sei er auch Musical-Fan, wenngleich  nur noch wenige Filmemacher die Kunst dieses Genres verstünden (wie etwa John Cameron Mitchell, dessen „Hedwig And The Angry Inch“ Turturro lobend hervorhebt).

Nach dem etwa halbstündigen Gespräch und einer kurzen Q+A-Session mit den anwesenden Gästen, ist Turturro auch schon wieder dahin. Das anschließende DJ-Set bestreitet Pulsinger allein.

Mittwoch, 3. November 2010

Detektivin der Filmgeschichte

Katja Wiederspahn ist Leiterin der Programmabteilung und Kopienkoordination der Viennale. Ihre Karriere begann sie bei der Frankfurter Filmschau, einem regionalen deutschen Festival mit Spezialisierung auf Dokumentar- und Experimentalfilmen. Nach fünf Jahren als Ko-Leiterin des Festivals und einer Mitarbeit beim schwul-lesbischen Filmfest in Frankfurt übersiedelte Katja nach Wien. Heuer ist bereits das neunte Jahr, das sie bei der Viennale absolviert. Ich traf Katja im Foyer des Gartenbaukinos zu einem Gespräch, in dem sie mir von ihrer Arbeit und ihrer nicht unkritischen Einstellung zum Festival erzählte.








Katja bei unserem Gespräch im Gartenbaukino




Was zählt zu deinen Aufgaben als Leiterin der Programmabteilung?

Mein Kerngeschäft ist die Organisation der Filmrechte, der Kopien, des Materials zu den Filmen, also auch von Fotos, Texten und, allem, was die Viennale-Katalogredaktion braucht. Bei den aktuellen Filmen bedeutet das nicht sehr viel Arbeit, weil man in der Regel weiß, wer die Rechte hat und wo die Kopien zu beziehen sind. Bei einem historischen Film kann das schon sehr aufwändig werden. Dieses Jahr nicht so sehr, weil einerseits die Produktionsländer der Tribute-Filme U.S.A. und Frankreich heißen - beides Länder, in denen es um die Erhaltung des Filmerbes relativ gut bestellt ist. Andererseits gehören die beiden Personen, um die es geht, der Filmemacher Larry Cohen und der Kameramann William Lubtchansky, zu einer klassischen Kinogeschichte. Im B- und C-Picture-Bereich sieht die filmarchivarische Situation auch in den U.S.A. anders aus. Da wird dann die Recherche oft schwieriger. Und sogar im Fall von Larry Cohen, der selbst sehr gut darüber Bescheid weiß, wo seine Filme liegen und wer die Rechte daran hat, war es zum Teil schwierig, Kopien aufzutreiben - erstaunlicherweise vor allem bei seinen neueren Filmen. Ist der Film nicht von vornherein von filmhistorischem Interesse, kann es passieren, dass es einfach keine Kopien gibt. Die Majors verfolgen zudem eine unterschiedliche Politik. Die Fox, zum Beiaspiel, ist ein Studio, das sein Filmerbe ganz gut verwaltet, bei Warner dagegen ist es anders. Ich verbringe also relativ viel Zeit damit, nach Kopien zu suchen und wenn ich sie gefunden habe, heißt das immer noch nicht, dass sie spielbar sind. Ich bin so eine Art Detektivin der Filmgeschichte.


Und welche Kopien und Rechte zu besorgen sind, sagt dir Hans Hurch, der während des Jahres zu Festivals fährt und dort Filme sieht, die er für die Viennale haben möchte?

Genau. Ich selbst fahre auch auf Festivals und schlage Filme vor. Von diesen Filmen bestelle ich dann DVDs, damit Hans sie sich auch ansehen kann, denn letztendlich entscheidet er über jeden einzelnen Film, der ins Programm kommt. Wenn wir nicht selbst zu den Festivals fahren, lassen wir uns Kataloge vom Programm schicken und bestellen DVDs der Filme, die Hans oder mich interessieren. Der dritte Weg, über den Filme zur Viennale kommen, sind die Konsulenten und Konsulentinnen, die uns DVDs von Filmen schicken, die sie fürs Festival vorschlagen. Dieses Jahr macht das im Wesentlichen Bérénice Reynaud, eine Filmwissenschaftlerin und Autorin, die in Los Angeles an der Filmschule CalArts (California Institute of the Arts - Anm.) unterrichtet. Ihr Schwerpunkt ist das unabhängige amerikanische Kino einerseits, andererseits aber auch das chinesische Kino. Sie macht das schon sehr lange für die Viennale und schickt uns pro Jahr ca. 100 DVDs, die ich wiederum vorsichte und dann für Hans eine Vorauswahl treffe.


Wie viele Filme siehst du - rein beruflich - im Jahr?

Vielleicht 500, 600. Wobei man sagen muss, da sind auch Kurzfilme dabei, und ich schaue mir nicht jeden Langfilm ganz an. Es stellt sich für mich nach einer Viertel-, spätestens nach einer halben Stunde heraus, ob mich der Film interessiert. Das meine ich nicht zynisch oder abschätzig. Ich muss dazu sagen, dass meine Perspektive beim Sichten nicht die ist, dass meine Wahrnehmung bedeutet, ein Film ist gut oder schlecht. Ich bin mir schon bewusst, dass ich eine sehr spezifische Perspektive aufs Kino habe. Das heißt, ich versuche möglichst nur Filme zu sichten, die mich prinzipiell interessieren, um sozusagen so solidarisch wie möglich mit dem Film umgehen zu können, was mir mehr oder weniger auch gelingt. Ich schaue sehr wenige Filme, weil ich sie sehen muss. Ich versuche, mir die Sichtung auszusuchen.


Was ist das teuerste, wenn man einen Film für ein Festival gewinnen will?

Die Filmrechte. Insbesondere bei historischen Filmen gibt es da zum Teil saftigste Preise. Auch die aktuellen Filme können teuer sein: Solange ein Film keinen Verleih hat, sichern sich oft Filmhändler die weltweiten Rechte an einem Film und verkaufen diese dann an die einzelnen, nationalen Verleiher weiter. Bei diesen sogenannten Weltvertrieben gibt es mittlerweile eine ziemlich heftige Preispolitik. Manche Firmen verlangen kategorisch 1000 Euro für einen Film. Das beinhaltet dann Rechte und Kopie, nicht den Transport. Vor fünf Jahren war der übliche Preis noch 600 Euro. Man sieht: Es gibt eine enorme Preissteigerung. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Nachfrage gestiegen ist, weil immer mehr Festivals weltweit gegründet werden und andererseits immer weniger Filme verliehen werden, ins Kino kommen. Dadurch wickeln immer mehr die Weltvertriebe die Festivaleinsätze der neuen Filme ab.


Bei der Viennale laufen viele Filme, die vorher schon bei anderen Festivals gut angekommen sind...

Das ist ein Teil der Viennale, und das speist sich vor allem aus der Tatsache, dass die Viennale kein sogenanntes A-Festival ist. Für die gibt es die Auflage, dass eine gewisse Anzahl an Filmen, Europa- oder Weltpremieren sein müssen. Die einzige Auflage, die es für uns gibt, ist, dass die Vorstellungen bei der Viennale Österreichpremieren sein müssen. Dadurch können wir aus allem, was im vergangen Jahr zu sehen war, auswählen - was, finde ich, eine große Freiheit bedeutet. Wobei es andererseits natürlich auch Weltpremieren bei der Viennale gibt, wie zum Beispiel dieses Jahr den neuen Thome-Film ("Das rote Zimmer" - Anm.). Thome ist dem Festival seit vielen Jahren sehr verbunden und wollte gerne, dass sein Film hier Weltpremiere hat. Das kommt durchaus vor und freut uns sehr, trifft aber eher auf Menschen zu, die entweder noch nicht sehr bekannt sind oder solche, wie Thome, die aufgrund ihrer Bekanntheit nicht darauf angewiesen sind, dass ihr Film etwa bei der Berlinale Weltpremiere hat. Das können sich aber nicht alle FilmemacherInnen leisten. Insofern verstehe ich jede und jeden, die oder der entscheidet, einen Film zuerst bei der Berlinale oder in Cannes oder in Venedig zu zeigen - und dann erst bei uns.


Die Viennale definiert sich als Publikumsfestival. Gab es nie Ambitionen, die Viennale zu einem so prestigereichen Festival zu machen, wie eben Cannes, Venedig oder die Berlinale?

Das wäre schön, würde aber bedingen, dass die Viennale einen Wettbewerb hat. Ich kann das nur für mich sagen - ich habe darüber mit Hans auch schon gesprochen, aber weiß jetzt nicht, was seine neueste Antwort auf diese Frage wäre - ich sehe, wie schwierig es für manche A-Festivals ist, zum Beispiel für Moskau, den Wettbewerb mit interessanten Filmen zu füllen. Weil man eben diese Auflage hat, dass es eine gewisse Anzahl von Weltpremieren geben muss. Im Grunde genommen erlegt dies einem Festival einen riesigen Zwang auf. Und ich genieße die Freiheit, die die Viennale hat, Filme zu zeigen, die gut und interessant sind, und nicht Filme aus dem Grund ins Programm zu nehmen, weil sie noch nirgends gelaufen sind. Das macht den inhaltlichen Gestaltungsspielraum sehr interessant. Dazu kommt, dass Österreich ein kleines Land ist. Für größere Produktionen ist es schlicht und einfach nicht interessant, Premieren in Österreich zu zeigen, weil den Film hier zu verkaufen, finanziell einfach nicht von großem Interesse ist. Das heißt, die Viennale hätte es höchstwahrscheinlich sehr, sehr schwer, größere Filme in den Wettbewerb zu bekommen, und das spricht schon sehr gegen diese Idee. Was nicht heißt, dass es nicht super ist, wenn wir möglichst viele Weltpremieren zeigen. Aber realistischerweise wird sich das im Rahmen halten. Die zweite Antwort, die ich mindestens genauso wichtig finde, ist: Die Viennale ist ein überschaubares Festival. Der Direktor kennt alle Filme, die im Programm laufen. Ich kenne die Hälfte der Filme und 70% der Filmgäste. Hans kennt 100% der Gäste. Das heißt, es gibt eine sehr persönliche Atmosphäre bei dem Festival, für die Menschen, die herkommen, um ihre Filme zu zeigen, und das wird sehr, sehr geschätzt. Wettbewerb hieße Vergrößerung und irgendwie auch Abstand nehmen von dieser fast familiären Atmosphäre, die es gibt. Und das interessiert Hans nicht, und mich im Grunde genommen auch nicht.


Wie nimmt die Viennale andere österreichische Filmfestivals in Österreich wahr? Vor kurzem gab es ja zum Beispiel das /slash Filmfestival. Sieht man das als Konkurrenz oder wünscht man einander viel Glück?

Sowohl als auch. Es wäre gelogen zu sagen, dass es keine Konkurrenz gibt. Die gibt es natürlich. Die Viennale ist das größte österreichische Filmfestival, insofern haben wir mit der Koexistenz wahrscheinlich am wenigsten ein Problem. Wenn es Konkurrenz in Österreich gibt, dann ist das am ehesten Crossing Europe. Wir versuchen, uns mit den andern Festivals abzusprechen und haben in der Vergangenheit auch Filme nicht gezeigt, weil Crossing Europe sie zeigen wollte. Beim /slash Filmfestival war es so, dass dort ein Film gezeigt wurde, den eigentlich auch wir gerne gezeigt hätten, aber der Filmemacher hat es vorgezogen, seinen Film in diesem sehr spezifischen Genrekontext zu präsentieren. Das haben wir schade gefunden, aber es ist jetzt nicht so, dass darüber Verbitterung entsteht. Das wäre als Viennale auch irgendwie lächerlich. Es gibt ja genug andere Filme. Man kann gut alle Festivals mit einem Programm füllen, das interessant ist, denke ich. Und grundsätzlich finde ich es gut, dass es in Österreich viele Festivals gibt. Gerade das /slash Festival halte ich für eine sehr schöne Idee. Was ich unglücklich finde, ist, dass es so kurz vor der Viennale stattgefunden hat, weil das genau die Konkurrenz erhöht, die nicht sein müsste. Ich habe es leider nicht geschafft hinzugehen, aber ich habe gehört, es ist gut gelaufen, und das freut mich, weil ich glaube, es gibt für dieses Genre in Wien Publikum, und diese Filme sind bei der Viennale tatsächlich unterrepräsentiert.


Bei der Viennale gibt es einen solchen Genre-Kontext nicht. Inhaltlich ist kaum ein roter Faden erkennbar - außer dass Hans Hurch die Filme für wertvoll hält. Wird das Festival dadurch nicht zu einem Synonym für den persönlichen Filmgeschmack seines Direktors?

Für mich ist es schwierig, hier über diese Frage ausführlich zu sprechen, weil ich als Viennale-Mitarbeiterin hier sitze. Ich kann nur sagen, es gibt durchaus Kritik genau daran. Und ich würde mir schon wünschen, dass Hans inhaltlich auch anderes im Hauptprogramm zulassen würde. Das tut er jedoch nicht. Ich fände es gut, wenn es eine größere Anzahl an Kuratoren und Kuratorinnen bei der Viennale gäbe - aber das will Hans ganz eindeutig nicht. Seine Politik ist ganz klar, er steht für die Auswahl eines jeden Films, das heißt auch, er lässt sich für die Auswahl jedes Films kritisieren. Ich finde, das macht die Viennale absehbar in Bezug auf die Programmauswahl. Insofern ja, ich würds mir anders wünschen.


Bist du darin involviert, dass die Filme, die den Publikumspreis erhalten, einen Verleih finden?

Ich bin insofern involviert als ich, wenn der Gewinnerfilm feststeht, den Verleihern DVDs schicke und nachfrage, ob es Interesse gibt. Letztes Jahr hat das nicht funktioniert. Ich finde es wichtig, darüber zu sprechen, weil ich mir wünschen würde, dass das besser funktioniert. Ich habe das Gefühl, die Viennale müsste sich mehr überlegen, um die Gewinner des Publikumspreises für Verleiher attraktiv zu machen. Letztes Jahr war es ein iranischer Film ("Darbareye Elly" - Anm.), für den keine Fördergelder bereitstehen. Da war klar: Die Werbepräsenz im Standard ist für einen Verleih zu wenig finanzieller Anreiz, um den Film ins Kino zu bringen.


Woher kamen die Filmkopien heuer?

Meine Lieblingsdestination war dieses Jahr San Juan in Puerto Rico. Dort gibt es ein Filmfestival, das mit der Viennale zeitlich überlappt und einen Film aus Malaysia spielt, den wir auch im Programm haben. Den schicken sie uns. Ansonsten haben wir so ziemlich alles: Israel, Russland... Dieses Jahr ist es für mich nicht so stressig, weil die Kopien aus Ländern geschickt werden, die von den Transportwegen und der Verzollung her unproblematisch sind. Jeder Film muss hier verzollt werden, wenn er aus einem nicht EU-Land kommt, der Film muss aber auch in den Ländern, aus denen er kommt, erst dort durch den Zoll, bevor er weitergeschickt werden kann. Und es gibt Länder wie Brasilien, wo der Zoll sehr schlecht funktioniert. Ich hab keine Ahnung, womit das zu tun hat. Letztes Jahr, zum Beispiel, wäre uns beinahe ein Film ausgefallen, weil eine Kopie, die beim Festival in Rio vorher gezeigt wurde, im Zoll hängengeblieben ist, und kein Mensch konnte sagen, was eigentlich das Problem ist. Ich glaube, es hat viel mit Korruption zu tun. Die Kurierdienste haben schlechte Beziehungen oder bestechen nicht. Dann sitzt die Kopie einfach da, und keiner kümmert sich darum - und da kann man dann gar nichts machen.


Ist es schonmal passiert, dass ein Film nicht rechtzeitig angekommen ist und Vorstellungen abgesagt werden mussten?

Ja, sicher. Wobei wir sehr gut unterwegs sind. Wir haben das Glück, dass wir zu vielen Festivals gute Beziehungen haben. Also, zum Beispiel, diese Rio-Geschichte letztes Jahr ist dann so ausgegangen: Es gibt ein Filmfestival in London, das parallel zur Viennale stattfindet. Mit denen arbeiten wir seit vielen Jahren zusammen, weil wir viele Kopien spielen, die sie auch spielen. Und London hatte nun zufällig denselben Film mit einer anderen Kopie im Programm. So konnten wir uns die Kopie für zwei Tage ausleihen.


Die Filme sehen sehr zerbrechlich aus. Ist noch nie einer kaputt gegangen?

Doch, sicher. Wir haben Wim Wenders' "Alice in den Städten" geschreddert. Das kommt schon vor. Meistens, weil ein Projektor schadhaft ist, einen Defekt während der Vorstellung entwickelt, von dem man nichts wissen konnte. Es ist aber auch schon einmal vorgekommen, dass in der Kopienkontrolle ein Film sehr verkratzt wurde beim Umrollen. Es passieren immer wieder Schäden, in der Regel sind sie zum Glück klein. Selbstverständlich hat die Viennale eine Kopienversicherung. Jede Kopie ist ziemlich hoch versichert und da wir Kopien nicht mutwillig zerstören, ersetzt die Versicherung die Kopie. Das einzige, was wirklich ein Drama wäre, wäre, wenn eine Kopie, von der es nur noch ein Exemplar gibt, zerstört wird - was aber Gott sei Dank so lange ich hier arbeite noch nicht vorgekommen ist.


Wie lange bleiben Filme bei der Viennale?

Das ist unterschiedlich. Die Archivkopien, also Kopien von den älteren Filmen - außer der Chabrol ("Le Boucher" - Anm.), der gerade sehr begehrt ist - kommen zwei Wochen vor Festivalbeginn und können bis Ende des Festivals in Wien bleiben, wenn ich es nicht schaffe, sie früher rauszuschicken. Bei den aktuellen Filmen, die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen programmiert sind, ist die Mindestverweildauer einer 35mm-Kopie fünf Tage: Der Film kommt an, geht in die Kopienkontrolle, wird am nächsten Tag gespielt, am übernächsten Tag gespielt, dann geht er wieder in die Kopienkontrolle zur Nachkontrolle und am Tag darauf verschicke ich ihn wieder.


Wie werden die Filme aufbewahrt?

Früher wurden sie in Containern aufbewahrt, die bewacht wurden. Das war deswegen so, weil unsere Produktion keinen fixen Standort hatte. Das war auch immer eine Kostenfrage: Zahlt es sich aus, einen Ort zu mieten, ein Haus, ein Gewerbeobjekt, zwölf Monate im Jahr, im Grunde genommen dafür, dass wir dann sechs Wochen im Jahr für die Produktion eine Bleibe haben, wo die Kopienkontrolle installiert wird u.a.. Dieses Jahr im Frühjahr hat die Produktion der Viennale ein günstiges Objekt gefunden, deswegen haben wir jetzt eine feste Behausung. Vorher waren die Container möglichst Standtort-günstig, gegenüber vom Konzerthaus, zum Beispiel, aufgestellt.


War das nicht unsicher?

Ja, deswegen hatten wir einen Kopienschläfer, der 24-Stunden auf die Kopien aufgepasst hat. Der hatte ein Bettchen im Container und hat gewartet, bis die Kopienkontrolle besetzt war. Dann ist er nach Hause gegangen.


Wird ein Großteil der Filme künftig im Digital-Cinema-Format sein?

Ich hoffe nicht. Es ist klar und deutlich, dass die Tendenz steigend ist. Wär ja auch absurd, wenn nicht. Wenn man sich vorstellt, dass in Österreich schon über 60% der Leinwände digitalisiert sind, haben wir einen süßen Schnitt. Bei uns sind dieses Jahr zehn digitale Filme im Programm. Ich gehe davon aus, dass der Anteil künftig größer wird. Das Urania-Kino wird vermutlich nächstes Jahr auch schon eine digitale Produktion haben. Das heißt, wir werden infrastrukturell besser aufgestellt sein. Das Gartenbaukino wird sich auch was überlegen müssen. Wir werden dann hoffentlich weniger Stress damit haben, was die Hardware anbelangt. Was dieses Jahr sehr deutlich geworden ist, ist, dass diese Technik noch irrsinnig unausgereift ist und ich einiges mehr Arbeit habe. Schon allein in der Kommunikation mit Menschen, die im Grunde genommen mit dem Film überhaupt nichts zu tun haben. Das ist eine neue Qualität von organisatorischem Einsatz. Da gibt es anonyme E-Mail-Adressen, wo sogenannte Keymanager antworten. Die haben keine Eigennamen. Das ist ein 24-Stunden-Service, sieben Tage die Woche, bei dem zehn verschiedene anonyme Menschen sitzen, die die Codes verschicken, die man braucht, um diese Filme abspielen zu können. Wir haben eigentlich bei fast jedem Film mehrere Male hin- und hergemailt, bis wir den richtigen Code hatten. Das heißt, man merkt, die Firmen, die diese DCPs herstellen und das Abspiel organisieren, haben noch wenig Erfahrung. Das ist alles noch sehr fragil. Ich hoffe, die Entwicklung des digitalen Kinos wird nicht so schnell voranschreiten, wobei man natürlich auch sagen muss: Die Filme, die wir digital spielen, sind alles Produktionen, die mit einem vergleichsweise großen Budget entstanden sind. Die unabhängige Doku aus China wird nicht digital werden. Der Dokumentarfilm ist auch ein Teil unseres Programms, und auch der wird wohl nicht in absehbarer Zeit digital werden. Deswegen gehe ich davon aus, dass wir nicht über die 50% hinauskommen werden.


Letzte Frage: Du hast so viele Filme gesehen, hast du einen Lieblingsfilm unter denen, die heuer im Programm laufen?

Einen nicht, aber vielleicht drei: Sehr beeindruckt hat mich "Hard Old Rock" (Originaltitel: "Jie wo yi sheng" - Anm.), die Arbeit eines jungen chinesischen Filmemachers. Sie ist das Porträt eines alten Mannes: Seine Familie ist während der Kulturrevolution enteignet worden, und er lebt jetzt ein sehr bescheidenes Leben in einem Altersheim und ist eine unheimlich beeindruckende Erscheinung. Ein Mensch, der fast 100- Jahre chinesische Zeitgeschichte verkörpert. Mich hat sehr beeindruckt, dass der Filmemacher so nahe an diese Figur herangekommen ist. Sie gehen, zum Beispiel, gemeinsam ins Badehaus und man sieht, wie dieser Mann nackt gewaschen wird. Ich finde das für eine chinesische Doku sehr offen. Zugleich ist der Film sehr behutsam in Bezug auf die Intimität des alten Mannes.

Der zweite Film ist "Winter's Bone" von Debra Granik, ein Spielfilm, der im Süden der U.S.A. in einem White-Trash-Milieu spielt und der mich wegen der Frauenfiguren sehr beeindruckt hat. Ich finde, dass die Regisseurin es genial geschafft hat, an allen Klischees vorbei über Handlungsspielräume von Frauen in solch traditionellen, unheimlich patriarchalen, gewalttätigen Milieus nachzudenken. Sprachlich hat mich der Film auch sehr gepackt.

Und der dritte Film ist eine Doku von Kim Longinotto, "Pink Saris", über eine Frau in einem Bundesstaat im Norden Indiens, Uttar Pradesh, die die Frauenrechte in ihrer Region zu ihrer Aufgabe gemacht hat. Sie selbst kommt aus der sogenannten "unberührbaren" Kaste, hat sich von ihrem Mann getrennt und lebt mit ihrem Lebensgefährten unverheiratet zusammen - hat also sämtliche Tabus Indiens bereits in ihrer eigenen Lebensgeschichte gebrochen - und hilft nun andern Frauen dabei, gegen Misshandlung seitens ihrer Eltern und Schwiegereltern vorzugehen, dagegen zu klagen, sich scheiden zu lassen, einfach ein unabhängiges Leben zu führen. Kim Longinotto ist eine alte Viennale-Vertraute. Wir haben fast jeden Film von ihr gezeigt. Ich kenne ihre Arbeit schon sehr, sehr lange und ich finde die Art und Weise, wie sie mit Direct Cinema umgeht, wunderschön. Ich habe Longinotto einmal gefragt, woher sie weiß, wie lange sie filmen muss, wenn sie die Sprache der Personen vor der Kamera nicht versteht. Und sie sagt, sie hat das im Gefühl. Sie arbeitet also nicht mit Simultan-Übersetzern oder -Übersetzerinnen. Was wirklich geredet wird, erfährt sie erst beim Schnitt. Das finde ich beeindruckend, weil es noch einmal deutlich macht, wie wenig es ihr bei den Dreharbeiten darum geht, das gesprochene Wort zu verfolgen, und wie sehr der Handlungsbegriff im Mittelpunkt steht.

Montag, 1. November 2010

Ready for Reed

Rockstar, Poet, Glam-Ikone, Grantscherben, Warhol-Freund, Antony-Hegarty-Entdecker, Laurie-Anderson-Ehemann – Lou Reed hat viele Facetten. Seit neuestem zählt die Filmemacherei dazu. In seinem 28-minütigen Dokumentarfilm „Red Shirley“ interviewt der Musiker seine 101 Jahre alte Cousine und erzählt, wie sie mit 19 Jahren von Polen nach Kanada und von dort weiter nach New York emigrierte.



Nun ist nicht überall, wo „Lou Reed“ draufsteht auch Meisterwerk drinnen, wie viele, viele, VIELE seiner Platten beweisen. Reed selbst hat bereits angekündigt, dass „Red Shirley“ sein erster und letzter Film gewesen sein wird, was den Schluss nahelegt, dass hier vielleicht ein Schuster seine Leisten kennt und bei ihnen bleiben will.

Trotzdem darf man gespannt sein auf den morgigen Abend, wenn Reed ab 20.30 Uhr im Gartenbaukino seinen Film vorstellt und zur Q+A-Session bereitsteht.

Und weil's mich grade freut, hier eine Liste der fünf besten Platten, an denen Reed mitgewirkt hat:


5. TRANSFORMER (Soloalbum)

Lou Reed - Transformer

Der Bowie wird’s scho richten: Nach seinem erfolglosen Solodebüt wendet sich Reed an Glam-Übervater David Bowie und lässt sich ein Hit-Album von ihm produzieren – für viele immer noch seine einzig wichtige post-Velvet-Underground-Platte. Mit Mascara im Gesicht wird Reed für kurze Zeit selbst zur Glam-Ikone und schreibt den Transsexuellen New Yorks mit „Walk On The Wild Side“ eine Hymne für die Ewigkeit. Außerdem essentiell: Der romantisch-entrückte „Satellite Of Love“ und das längst vor der Wiederentdeckung durch „Trainspotting“ unsterblich gewordene „Perfect Day“.


4. LOADED (The Velvet Underground)

The Velvet Underground - Loaded

Die ersten vier Velvet-Underground-Alben dürfen in keiner Plattensammlung fehlen. "Loaded" ist die letzte Platte, an der Reed beteiligt war. Er verließ die Band noch vor der Veröffentlichung. Mit Klassikern wie Sweet Jane", "Oh! Sweet Nuthin'" und "Who Loves The Sun" ist "Loaded" ein mehr als würdiger Schwanengesang einer der einflussreichsten Rockbands aller Zeiten. Als drei Jahre später das unwürdige "Squeeze"-Album folgte, war Reed schon längst mit seiner Solokarriere beschäftigt.


3. THE VELVET UNDERGROUND (The Velvet Underground)

The Velvet Underground - The Velvet Underground

Nach dem noisigen zweiten Album "White Light/White Heat", das zur Blaupause für Bands wie Sonic Youth und My Bloody Valentine wurde, feuerte Lou Reed John Cale, den zweiten kreativen Kopf der Band, und holte anstattdessen Multiinstrumentalist Doug Yule ins Boot. "The Velvet Underground", das dritte Album der Band, geriet songorientierter als der Vorgänger. Viele Stücke sind von zerbrechlicher Schönheit, wie der Opener "Candy Says", das passiv-aggressive "Pale Blue Eyes" und das gänzlich unironische Stoßgebet "Jesus". Daneben stehen überschwängliche Songs ("What Goes On", "I'm Set Free") und der coole Raussschmeißer "After Hours". Meisterwerk.


2. THE VELVET UNDERGROUND & NICO (The Velvet Underground & Nico)

The Velvet Underground - The Velvet Underground & Nico

Über dieses Album muss man keine großen Worte mehr verlieren. Vom klassischen Line-Up mit John Cale, Sterling Morrison und dem deutschen Modell Nico eingespielt, ist "The Velvet Underground & Nico" einer der großen Klassiker der Rockmusik. Reed singt über Dinge, die Mitte der 60er sonst nirgendwo thematisiert wurden: Drogensucht, Sodomie, Selbstmord. Die Musik ist mal harmonisch poppig ("I'll Be Your Mirror", "Femme Fatale"), dann wieder furios experimentell ("Heroin", "Venus In Furs"). Hätte Reed nur dieses eine Album gemacht, er wäre heute trotzdem eine Legende.


1. NEW YORK (Soloalbum)

Lou Reed - New York

Nicht so bahnbrechend und einflussreich wie das Velvet-Underground-Debüt, aber insgesamt Reeds überzeugendste Arbeit. "New York" ist zornig und pechschwarz. Die Mühe zu singen, macht sich Reed gar nicht mehr. In 14 Liedern erzählt er atemlos Geschichten aus den dreckigen Winkeln der City that never sleeps. Auch Kurt Waldheim kriegt dabei sein Fett weg. Eine der besten Platten der 80er, ach was, aller Zeiten.

A Tribute to Larry Cohen

Ein Tribute der diesjährigen Viennale ist dem umtriebigen Filmemacher Larry Cohen gewidmet. In den späten 50ern sich der New Yorker, damals noch ein Teenager, als Drehbuchschreiber für diverse Fernsehserien einen Namen. "Bones", sein erster Kinofilm als Regisseur erschien im Jahre 1972.

Die erfolgreichste Zeit kam in den 70ern und 80ern: Filme wie „Black Caesar“, „It’s Alive“ und „God Told Me To“ sind denkwürdige Einträge im Graubereich zwischen Grindhouse und Mainstream-Kino. Auch wenn Cohen immer wieder kommerzielle Erfolge feierte – zuletzt in Form des Joel-Schuhmacher-Hits „Phone Booth“, für den er das Drehbuch schrieb –, blieb er stehts dem B-Movie verpflichtet. Seine letzte Regiearbeit fürs Kino („Original Gangstas“) liegt bereits vierzehn Jahre zurück, doch ist der 59-Jährige bis heute jedes Jahr als Drehbuchautor und Produzent an mehreren Filmprojekten beteiligt.

Cohen zu Ehren veranstaltete die Viennale am Mittwoch eine Gala, bei der die wichtigste Arbeit des Filmemachers gezeigt wurde: „The Private Files of J. Edgar Hoover“ ist der Versuch einer reflektierten Auseinandersetzung mit dem Gründer und langjährigen Direktor des FBI. Mit seinen großen Gesten, der überkandidelten Filmmusik und Hauptdarsteller Broderick Crawfords theatralischem Spiel wirkt der Film heute ein bisschen angestaubt (ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass der Ton der Kopie für die Vorstellung im Gartenbau nicht ordentlich restauriert werden konnte: Es knisterte und rauschte, dass man kaum ein Wort verstand.) 1977 jedoch sogte „The Private Files of J. Edgar Hoover“ mit unverhohlener Kritik am FBI und der amerikanischer Regierung für Kontroversen, wie Cohen selbst vor und nach dem Film erklärt.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Lusthausfest


Halbzeit bei der Viennale: Nach acht Spieltagen bittet das Festival geladene Gäste zur Lusthausparty. Am unteren Ende der Hauptallee des Praters gelegen, ist das Lusthaus mit den öffentlichen Verkehrsmitteln recht schwer zu erreichen. Viele Gäste kommen daher mit dem Auto. Das wiederum ruft die Polizei auf den Plan, die in der Aspernallee ein Planquadrat aufstellt, das sich gewaschen hat: Zig Polizisten stehen da schon um 21 Uhr mit strengem Blick, um die Autofahrer von vornherein nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.

Hier geht's zur Party: Der Eingang zum Lusthaus.

Das Lusthaus leuchtet bunt aus allen Fenstern. Davor steht ein riesiger Jameson-Bus, in dem die Gäste Drinks zu sich nehmen können. Nach einem ausladenden Buffet mit Schweinsbraten, Zander, Beilagen und Nachspeisen beginnt der DJ eine etwas eigenwillige Mischung aus alten Hadern (Kinks, Bowie, Falco), aktuelleren Hits (LCD Soundsystem, Vampire Weekend und dann nochmal LCD Soundsytem) und instrumentalen Elektro-Stücken aufzulegen. Die Leute danken es ihm und begeben sich auf die Tanzfläche. Wem es dort nicht behagt, der weicht an einen Tisch im ersten Stock oder in den Jameson-Bus aus.

Gratis-Bier => ausgelassene Stimmung


Bis 4 Uhr morgens rauscht das Fest. Wer danach noch fahren kann, muss erstmal den Eisschaber hervorkamen und den Frost von der Windschutzscheibe kratzen. Ist halt doch schon Winter. Macht aber nix: Wir verkriechen uns einfach noch eine Woche lang in den warmen Kinos.

The Agony And The Ecstasy Of Phil Spector

Nieselregen und verhangener Himmel am frühen Samstagnachmittag. Kinowetter also. In der Urania wird „The Agony And The Ecstasy Of Phil Spector“ gezeigt, eine Dokumentation über den berühmt-berüchtigten Plattenproduzenten, der in den 50er- und 60er-Jahren mit der Erfindung des sogenannten „Wall Of Sound“ und der Produktion von Hits wie „Be My Baby“ (The Ronettes) und „You’ve Lost That Lovin‘ Feelin‘“ (The Righteous Brothers) Popgeschichte geschrieben hat.

2003 wurde Spector wegen Mordverdachts festgenommen, nachdem die B-Movie-Schauspielerin Lena Clarkson in seinem Schloss (ja, Schloss!) in Alhambra erschossen aufgefunden wurde. Bevor der Produzent letztes Jahr schuldig gesprochen und zu 19 Jahren Haft verurteilt wurde, traf ihn Regisseur Vikram Jayanti, und versuchte in mehreren Gesprächen den Mann hinter der Popikone zu ergründen.



Vikram Jayanti gelingt das Kunststück, einen langweiligen Film über eine der faszinierendsten Figuren der Popgeschichte zu machen: Endlos darf Spector vor der Kamera dahinbrabbeln, er sei größer und genialer als Galileo Galilei und Leonardo Da Vinci, als die Beatles und Brian Wilson sowieso. Als er dann noch erklärt, der legendäre Hairdo, den er einmal im Gericht präsentierte…

DIESER Hairdo!


…, sei als Hommage an Albert Einstein und Bob Dylan zu verstehen gewesen, nimmt das Ganze „Spinal Tap“-Ausmaße an.

Das Verfahren selbst wird hingegen kaum thematisiert. Jayanti begnügt sich damit, Aufnahmen aus dem Gerichtssaal unterlegt mit Spectors größten Hits zwischen die Interviews zu schneiden. Das ist weder besonders aufschlussreich, was die popkulturellen Errungenschaften des Produzenten angeht, noch was seine Rolle im Mordfall betrifft.

Als der Regisseur dem Publikum nach der Vorstellung offenbart, dass er Spector für schuldig hält, ist man überrascht, spricht sein Film doch eine andere Sprache: Die gezeigten Zeugenaussagen entlasten den Angeklagten allesamt. Spector ist der etwas weltfremde, aber liebenswert-schrullige Onkel, während Clarkson als labile Möchtegern-Schauspielerin mit Selbstmordtendenzen wegkommt. Als unparteiische Dokumentation taugt „The Agony And The Ecstasy Of Phil Spector“ somit nicht viel, als Künstler-Biographie bleibt der Film zu oberflächlich.

Interessanter ist die anschließende Q+A-Session, bei der Jayanti von der Arbeit mit Spector erzählt und einige Anekdoten zum Besten gibt:

Warum Jayanti den Film machen wollte...




Über die Struktur des Films, Spectors Selbstwahrnehmung und das Gerichtsverfahren...



Warum Spector John Lennon mit einer Waffe bedrohte, und warum ihn andere Künstler anpissen (manche davon nicht nur im metaphorischen Sinn)...



(For the record: McCartney > Lennon!)

Wie Leonard Cohen darauf reagierte, mit einer Waffe bedroht zu werden, und was Jayanti vor dem Dreh geklärt haben wollte...



Wie der Film ursprünglich beginnen sollte...



Spectors Eitelkeiten...

Montag, 25. Oktober 2010

Das habt ihr in der Tasche...

Die A1 Viennale Tasche ist lässig. Warum? Darum:




A1 bietet Fans der Festivalbags eine Möglichkeit, um das begehrte, aber nicht im Handel erhältliche Accessoire zu ergattern, und verlost mehr als 100 A1 Viennale Taschen:  Wer bis zum 27.10. (das ist schon übermorgen!) eine SMS mit dem Inhalt "VIENNALE" an 0664/660 6000 schickt, kann eines der zehn bisherigen Taschenmodelle gewinnen. 


Und so sehen sie aus, die A1 Viennale Taschen 2001-2010.
Die genauen Teilnahmebedingungen für das Gewinnspiel findet ihr hier. Viel Glück!

Samstag, 23. Oktober 2010

Schlechtes Wetter, Affen-Geister und ein großer dunkler Fremder

Portland, Oregon scheint eine recht trostlose Gegend zu sein: Wenn man nicht gerade in der Eis-Fabrik oder im schnöden Büro arbeitet, spaziert man am verregneten Strand entlang oder schmeißt Weintrauben von Dächern und schaut ihnen beim Zerplatzen auf dem Asphalt zu. So machen das jedenfalls die Protagonisten in Aaron Katz' "Cold Weather". Der Film erzählt die Geschichte von Doug, einem verhinderten Sherlock Holmes, der sein Forensikstudium abbricht und zu seiner Schwester Gail ins besagte Portland zieht. Dort trifft er seine Ex-Freundin Rachel wieder, die bald darauf spurlos verschwindet. Gemeinsam mit Gail und einem Arbeitskollegen macht sich Doug auf die Suche nach ihr.





In "Cold Weather" steht die Cinematographie vor den Charakteren und die Charaktere vor der Handlung. Oft scheint es, als laufen die Protagonisten zufällig durchs Bild, während die Kamera eigentlich auf die nass-kalten Landschaften oder die dicken Regentropfen an den Fensterscheiben dahinter gerichtet ist. Fast schon naturalistisch mutet die Erzähltechnik an, als im zweiten Drittel eine etwas konstruierte, aber unterhaltsame Detektivgeschichte anhebt. Aus der Vermengung von Realismus und Mystery-Puzzle entsteht Komik: Wenn Doug sich bei seinen Ermittlungen mit Gail darum zankt, wer im Auto hinterm Lenkrad sitzen darf, erinnert das ein bisschen an eine weniger geschwätzige Version von Woody Allens "Manhattan Murder Mystery". Doch Katz lässt das Detektivspiel nie die Überhand gewinnen und behält stets die etwas verquere, aber liebevolle Beziehung des Geschwisterpaars im Fokus. Ein orgineller und kurzweiliger Film mit einem etwas antiklimatischen Ende.

Alles andere als kurzweilig ist "Loong Boonmee raleuk chat", den Viennale-Direktor Hans Hurch als einen der "wichtigsten Filme der letzten Monate, vielleicht sogar Jahre" ankündigt. Nach einem Nierenversagen wird Onkel Boonmee von seiner Schwester und seinem Neffen gepflegt. Eines Abends erhalten die drei Besuch von Boonmees vor 19 Jahren verstorbener Frau und seinem verschollenen Sohn, der sich mittlerweile in einen Affen-Geist verwandelt hat. Als Boonmee spürt, dass er dem Tode nahe ist, begibt er sich mit seiner Familie in den Dschungel, um nach den Ursprüngen seiner Existenz zu suchen.





Wer mit dem asiatischen Kino nicht vertraut ist, wird mit Apichatpong Weerasethakuls assoziativer Elegie nicht viel anfangen können. Alles bleibt vage, bedeutungsschwanger. Handlungsstränge reihen sich scheinbar willkürlich aneinander und der Film schlägt stilistische Haken, was Schauspiel, Regieführung und Sound-Design angeht. Das alles ist natürlich gewollt, doch bleibt die Intention dahinter unklar. Der Regisseur selbst beschreibt sein Werk als Hommage an die thailändischen Filme und Serien, mit denen er aufgewachsen ist. Es ist daher kein Wunder, wenn man sich dabei als Europäer außen vor gelassen fühlt. Sei's drum, ich geb's zu: Ich habe den Film nicht verstanden.

Fast schon tröstlich vertraut kommen einem dann um 23:30 Uhr die einleitenden Worte von Woody Allens "You Will Meet A Tall Dark Stranger" vor: "Shakespeare said, life was ‘full of sound and fury, and in the end signifying nothing'". Alles beim Alten also beim Stadtneurotiker mit der dicken Hornbrille: Das Leben ist willkürlich und ohne Sinn - aber nicht ohne Komik.

In "You Will Meet A Tall Dark Stranger" dreht sich wieder einmal alles um verkorkste Liebesbeziehungen: Anthony Hopkins besorgt sich als Mann in der (Post-)Midlife Crisis einen Sportwagen und verlässt seine Frau für eine um vierzig Jahre jüngere Blondine. Josh Brolin und Naomi Watts interessieren sich als Ehepaar längst nicht mehr füreinander, sondern begehren andere: er die aufreizende Nachbarin von gegenüber, sie ihren eleganten Chef.





Thema und Erzählweise sind altbekannt. Allen erfindet sich auch heuer keineswegs neu. Dennoch ist "You Will Meet A Tall Dark Stranger" um ein Vielfaches gelungener als sein letztjähriges Selbstplagiat "Whatever Works". Bis auf Anthony Hopkins, dessen Figur klischeehaft und übertrieben ist, wurden alle Rollen gut besetzt, und Allen inszeniert seinen Film mit leichtfüßiger Routiniertheit. Kein wichtiger Film im Schaffen des produktiven Filmemachers, aber einer der sehenswerteren, die er in den letzten fünfzehn Jahren auf die Leinwand gebracht hat.

Freitag, 22. Oktober 2010

Viennale-Fan der ersten Stunde

Seit seiner Teenagerzeit ist Robert Röschel, pensionierter Beamter der Stadt Wien, ein Filmenthusiast. In einem Gespräch hat mir der heute 70-Jährige von seiner andauernden Liebe zum Kino und seiner Begeisterung für die Viennale erzählt, die er nun schon seit über 40 Jahren regelmäßig besucht.

Robert Röschel (70) hat seit 1968 keine Ausgabe der Viennale verpasst.



Herr Röschel, Sie waren 1968 zum ersten Mal bei der Viennale und haben seither keine Ausgabe des Festivals ausgelassen.

Ja. Am Anfang war es ja noch das "Festival der Heiterkeit" in der Urania – da war ich noch nicht. Zu der Zeit hab ich mir nur einzelne Filme, die beim Festival gezeigt wurden, normal im Kino angesehen, etliche davon im Filmmuseum. Als die Viennale ‘68 unter dem Titel "Filme, die uns nie erreichten" angelaufen ist, hab ich begonnen hinzugehen. Ich hab mir ein Programm zugelegt und einiges entdeckt, was mich sehr interessiert hat. Seitdem geh ich regelmäßig zur Viennale.


Wie ging das damals zeitlich, als sie noch berufstätig waren?

Ich hab mir immer frei genommen. Manchmal eine Woche, manchmal sogar zwei. Für mich war das immer wie Urlaub.


Wann haben Sie Ihre Leidenschaft für Film entwickelt?

Schon lange vor der ersten Viennale. Da war ich 15, 16 Jahre alt. Eigentlich hat für mich alles mit der Nouvelle Vague in Frankreich begonnen. Ich kann mich erinnern, der erste Film, der mich so richtig begeistert hat war „Hiroshima mon amour“. Davor bin ich auch schon ins Kino gegangen, aber hauptsächlich in deutsche Schlagerfilme und Literaturverfilmungen, mit denen ich mir die Leseliste für die Deutschmatura aufgebessert hab. Dokumentarfilme habe ich auch schon sehr früh geliebt, mehr fast noch als Spielfilme.


Was hat Sie an „Hiroshima mon amour“ so fasziniert?

Das war der erste Film der Nouvelle Vague, der zu uns kam, und er war ganz anders als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Da ist mir erst richtig aufgegangen, was man alles mit dem Medium Film machen kann. Der Regisseur Alain Resnais bzw. Marguerite Duras, die das Drehbuch geschrieben hat, haben nicht in der üblichen Form Schauspieler auftreten lassen, die reden und die Handlung weiterbringen. Der Film war wie ein literarischer Text, der mit Bildern dargestellt wurde, die oft gar nicht unmittelbar damit zusammenhingen. Dass das völlig frei behandelt wurde, der Text und die Bilder dazu, und welche Kombinationen man damit machen konnte, das hat mich beeindruckt. Noch interessanter und experimenteller war es dann beim nächsten Film von Resnais, "Letztes Jahr im Marienbad". Nach nur einem Mal Sehen kann man den gar nicht verstehen.


Wie haben Sie damals von Filmen erfahren, die Sie interessieren könnten?

Ich hab mir regelmäßig die Sendung "Pro & Kontra" im Radio angehört. Die lief immer am Samstag um 2 Uhr. Da bin ich mit der ganzen Familie vorm Radio gesessen, und wir haben uns Filme ausgesucht, die uns interessiert haben. Meistens wars dann aber so, dass ich ins Kino gegangen bin, mir die Filme angeschaut hab, und dann, wenn sie mir gefallen haben, und ich mir gedacht hab, das ist auch für die anderen geeignet, hab ichs mir nochmal mit der Familie angeschaut.


War die ganze Familie so filmbegeistert, wie Sie?

Ich hab die andern einfach mitgerissen. Die waren zuerst gar nicht so filmbegeistert. Meine Eltern haben Hans Moser und die deutsch/österreichischen Filme geliebt, die damals hauptsächlich gelaufen sind. Ich hab sie dann irgendwie dazu gebracht, dass sie sich auch andere Sachen anschauen.


Wie informieren Sie sich heute über Filme?

Über Tageszeitungen und Filmzeitschriften, wie Celluloid und Ray. Bei der Viennale besorge ich mir einfach jedes Jahr das Programm. Besonders interessieren mich immer die Filme, die schon in Cannes, Venedig und Berlin gelaufen sind. Wenn die es auch zur Viennale schaffen, bin ich dort. Jetzt schaff ich es leider nicht mehr zu allen, weil es mittlerweile einfach zu viele sind.


Wie hat sich die Viennale seit 1968 verändert?

Früher haben amerikanische und europäische Filme im Programm überwogen. Jetzt hat sich der Horizont sehr geweitert. Es sind viele Länder dazugekommen, dadurch ist der Anteil der europäischen Filme ein bissl geschrumpft. Natürlich sind auch die Regisseure heute andere. Die alten sind gestorben, jetzt gibt es eine neue Generation. Viele meiner Freunde, mit denen ich früher oft zur Viennale gegangen bin, gehen heute nicht mehr hin, weil sie die neue Art, Filme zu machen, nicht mögen, während ich mich umstellen konnte. Es gibt etliche neue Filme, die mir genauso gefallen, wie die der großen frühen Regisseure. 
            

Wo sehen sie denn die Unterschiede zwischen dem Kino damals und heute?

Kino ist immer ein Spiegel der Zeit, und die ist hektischer geworden. (Überlegt.) Das könnten meine Freunde wahrscheinlich besser erklären.


Sind die Filme heute expliziter als damals, was die Darstellung von Sex und Gewalt angeht?

Ja, und das stört meine Freunde. Ein bissl stört's mich ja auch, aber ich hab mich daran gewöhnt. Außerdem war ich anfangs sehr dafür, weil die Heuchelei der Fünfziger ist mir eh schwer auf den Wecker gegangen. (Lacht.) Es war schon gut, dass sich da plötzlich einiges geändert hat, und dass man Dinge angesprochen hat, die man vorher nicht aussprechen konnte oder durfte. Nur dass die sexuelle Revolution dann in eine ordinäre Welle ausgeartet ist, das hab ich dann nicht mehr so begrüßt. Andererseits freut es mich, dass ich vieles durch den Film kennenlerne. Dafür werde ich von meinen Freunden oft ausgelacht. Es gibt fast kein Thema, über das ich nicht irgendeinen Film gesehen hab.


Haben Sie einen Lieblingsfilm?

Ich habe einen Lieblingsregisseur: den Ingmar Bergman. Der hat irgendwie meine Sprache gesprochen. Ich mag gern philosophische Filme, Parabeln. Wie von Bergmann oder Tarkovsky. Von den jetzigen Regisseuren hab ich Zhang Yimou und Lars von Trier sehr gern.


Lars von Trier?

Ja. (Lacht.) Ich bin nicht leicht zu schockieren. Ich vertrag manches. Den "Antichrist" hab ich auch vertragen. Den hab ich mir zwei Mal angeschaut. Beim zweiten Mal bemerkt man vieles, was beim ersten Mal untergeht. Da denkt man zu sehr ans nächste Bild, während man beim zweiten Durchgang auf die Szene selber achten kann. Viele Filme gefallen mir beim zweiten Mal besser als beim ersten Mal. Bei manchen ist es aber auch umgekehrt.


Haben Sie nie mit dem Gedanken gespielt, sich beruflich mit Film auseinander zu setzen, als Kritiker, zum Beispiel?

Nach der Matura wollte mein Deutschprofessor unbedingt, dass ich Germanistik und Philosophie studiere. Meine Eltern waren aber total dagegen und wollten, dass ich ein Jusstudium beginne. Damit konnte man mehr werden. Mit Philosophie und Germanistik konnte man nur Lehrer werden, und das wollt ich auch nicht. Das Überlegen hat sich dann aber eh erledigt, weil mein Vater bald darauf krank geworden und gestorben ist, und ich Geld verdienen musste. Und so bin ich zur Gemeinde Wien gekommen. Der Vorteil dabei war, dass ich in Wien bei meinem Vater bleiben und ihm helfen konnte, so lange er noch gelebt hat. Nebenbei studieren, das war für mich zu viel.


Aber ihre Leidenschaft für Filme haben Sie sich im Privaten erhalten?

Ja, ich hab immer für mich privat über Filme geschrieben. Eines Tages kam ein Freund zu mir und hat gemeint, ich soll das unbedingt einschicken. Also hab ich meine Ergüsse an die Sendung "Pro & Kontra" geschickt. Ich bin dann wirklich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden, und die haben gemeint, ich könnte bei ihnen mitarbeiten. Leider ist es aber wegen meiner Arbeit bei der Gemeinde nicht gegangen, dass ich Pressevorführungen von Filmen und dergleichen besuche. Ich hab mir dann überlegt: Bei der Gemeinde hab ich einen sicheren Posten, den geb ich nicht auf. Und die Sendung gibt's ja jetzt wirklich nicht mehr. Da hätte ich mit 50 noch einen Berufswechsel machen müssen. Da bin ich ganz froh, dass ich mir das nicht angetan hab. Aber ich wurde vermittelt an die damalige Aktion "Der gute Film", und für die habe ich dann als zeitweiliger Mitarbeiter sieben Jahre lang Filmbesprechungsgrundlagen geschrieben. Aber irgendwann hat mir das auch nicht mehr behagt, und ich hab es sein lassen...


Zu viel Arbeit?

Nein, eher zu wenig! Ich war es gewöhnt, über schwierige Filme zu schreiben und habe oft zwölfseitige Besprechungsgrundlagen verfasst – mit ausführlichen Biografien über die Regisseure usw. Aber plötzlich hat es geheißen, meine Texte dürfen nur noch vier Seiten lang sein, und das hat mich dann nimmer gefreut.


Zurück zur Viennale: Worauf freuen sie sich heuer besonders?

Ich bin sehr gespannt auf den Film von Apichatpong Weerasethakul (Loong Boonmee raleuk chat“ – Anm.). Auch auf den Godard-Film (Film socialisme“ – Anm.) bin ich sehr neugierig. Den werd ich beim ersten Mal bestimmt nicht verstehen, aber das bin ich von Godard gewohnt. Ich hoffe, dass der Film auch regulär ins Kino kommt. Dann sehe ich ihn mir noch einmal an.
  

Haben Sie eigentlich einen Videorekorder oder einen DVD-Player zu Hause?

Mittlerweile hab ich beides, aber lange hatte ich weder das eine noch das andere. Da konnte ich mir alle Filme nur im Kino anschauen und hab mir nichts sehnlicher gewünscht als ein eigenes Kino. Dieser Traum hat sich mittlerweile für mich erfüllt. (Lacht.)